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Titel
Regime der Anerkennung. Kämpfe um Wahrheit und Recht in der Aufarbeitung der argentinischen Militärdiktatur


Autor(en)
Hasgall, Alexander
Erschienen
Bielefeld 2016: Transcript – Verlag für Kommunikation, Kultur und soziale Praxis
Anzahl Seiten
289 S.
von
Maria Palme

Der Autor geht in seiner Dissertationsschrift der Frage nach, inwieweit Anerkennung in Folge von Gewalthandlungen der argentinischen Militärdiktaturen (1976 bis 1983) ein Modell für den Umgang mit staatlicher Repression darstellen kann und darüber hinaus einen alternativen Ansatz für die Konfliktbewältigung traumatisierter Opfergruppen bietet.

Hasgall erarbeitet fundiert epistemologische Grundlagen für das konzeptionelle Verständnis von Anerkennung, die er mit Theorien aus der politischen Philosophie von Honneth, Hegel, Foucault und Bourdieu untermauert. Seine Analyse zeigt die Bedeutung von Anerkennung für die subjektive Dimension bis hin zu ihrem Beitrag für Aussöhnungsprozesse auf nationaler Ebene. Erstens dient Anerkennung der Bewältigung des eigenen Leids der Opfer durch «Bestätigung des Selbstseins» (S. 14). Zweitens trägt sie dazu bei, dass Opfer als diskriminierte Minderheitengruppe in die postautoritäre Gesellschaft integriert werden (S. 242) und fördert den Aufbau einer neuen Intersubjektivität zwischen Tätern und Opfern. Die öffentliche Anerkennung des staatlichen Unrechts verankert zudem ein neues Masternarrativ, das im Rahmen von institutionellen Wahrheitskommissionen in den öffentlichen Raum und das kollektive Gedächtnis einer Nation transferiert wird (S. 254).

Die wesentliche Leistung der argentinischen Wahrheitskommission sieht der Autor in der Ausdifferenzierung von faktualem Wissen und Narrativen (S. 46) und im Aufdecken bisher verschwiegener und verdrängter Verbrechen, wie beispielsweise des Verschwindenlassens von Tausenden von Oppositionellen und Menschenrechtsaktivisten unter den argentinischen Militärregierungen. Darüber hinaus bewirkt die «Anerkennung der Wahrheit» die Initiierung eines neuen sozialkritischen Diskurses über die Vergangenheit und die Etablierung einer neuen Memorialkultur (S. 249), welche neue Herrschaftsformen und Mächteverhältnisse in jungen Demokratien stabilisiert durch die Aberkennung der vorherigen autoritären Instanzen. Anerkennung stellte in Argentinien nicht nur eine Prämisse für Aussöhnungsprozesse zwischen Täter- und Opfergruppen dar, sondern hatte ebenso Auswirkung auf den Transitional Justice Prozess der 1990er Jahre im Rahmen der strafrechtlichen Aufarbeitung der menschenrechtlichen Vergehen.

Im Zentrum der epistemologischen Fallstudienanalyse stehen die argentinische Wahrheitskommission CONADEP (Comissión Nacional sobre la Desaparación de Personas) und die vielfältigen Dimensionen von Anerkennung in deren Wirken. Unter «truth seeking» versteht der Autor einen dynamischen sozialen Prozess (S. 46), dessen wesentlicherBeitrag darin liegt, den bisher Stimmlosen eine Stimme zu verleihen. Der Autor zeigt auch die Grenzen dieser institutionellen Praxis auf und beschreibt ihren hegemonialen Charakter im Rahmen des argentinischen Nationenbildungsprozesses. Versiert und unter Einbeziehung der umfangreichen englischen, deutschen und argentinischen Forschungsliteratur skizziert der Autor die Kommissionsarbeit, die im Wesentlichen den Nachweis der Verbrechen, die Identifikation der Schuldigen und deren Schuldeingeständnisse gegenüber den Opfern beinhaltete und dadurch zur Schaffung einer neuen historischen Wahrheit beitrug. Darüber hinaus konnte die CONADEP, wenn auch nicht ohne Hürden, durchaus ihrem Anspruch auf Justicia und Verdad gerecht werden, indem sie beispielsweise umfangreiche Beweismittel zusammentrug für spätere strafrechtliche Prozesse gegen die führenden Militärs, die massgeblich zum Absetzen der alten Eliten und zum endgültigen Machtwechsel beitrugen. Der reformorientierte Systemübergang unter der Alfonsínischen Regierung (1982–1993) begründete zunächst einen gewissen Raum der «Rechtslosigkeit für die Opfer» (S. 14). Zwar begünstigte der politische Kompromiss zwischen alten Militärs und neuen Eliten und die partielle Straffreiheit die Beteiligung von Opfern und Tätern an der institutionalisierten Aufarbeitung. Jedoch führte die staatlich verordnete Aussöhnungspolitik unter der falschen Voraussetzung einer nationalen Schlussstrichpraxis zunächst nicht zum erwünschten Erfolg eines nationalen Erkenntnisprozesses über die diktatorische Vergangenheit. Diese Form der einseitigen Aussöhnungspolitik provozierte hingegen Gegenreaktionen in der Zivilgesellschaft, vor allem in den Opfer- und Angehörigenverbänden, wie den Madres de Plaza de Mayo, die an Massenkundgebungen ein neues öffentliches Bewusstsein für die weitere Aufarbeitung der Vergangenheit schufen, Rehabilitationsgesetze für die Opfer forderten und auf die Notwendigkeit weiterer strafrechtlicher Prozesse verwiesen. Durch den wachsenden öffentlichen Druck wurden Schuldgeständnisse von Tätern – so zum Beispiel jenes des ehemaligen Korvettenkapitäns und für die Todesflüge mitverantwortlichen Adolfo Scilingo – erst möglich (S. 211). Diese Form der Anerkennung von individueller Schuld stellte nicht nur einen moralischen Meilenstein im öffentlichen Erkenntnisprozess zu den Verbrechen der argentinischen Militärdiktaturen dar. Die individuellen Zeugnisse aus Täterperspektive vermittelten zudem neues Wissen über Ursache und Ausmass der Gräueltaten und dienten als Lehrstunde für nachlebende Generationen.

Hasgall schliesst mit seinem Brückenschlag zwischen Philosophie und Vergangenheitspolitik eine wesentliche Forschungslücke in der deutschen Forschungslandschaft. Seine Ergebnisse ergänzen zudem neuere Erkenntnisse aus der Sozialpsychologie.1 Sein Werk stellt einen wesentlichen Beitrag zur internationalen Transformations- und Versöhnungsforschung dar und ist nicht nur für Akademiker und Praktiker, sondern auch für politische Entscheidungsträger empfehlenswert. Im Gedächtnis bleibt der eindringliche Appell des Autors an die unbelastete Generation in Argentinien, das einst von den zivilgesellschaftlichen Akteuren wie den Madres de Plaza de Mayo erkämpfte Wissen um das begangene Unrecht nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.

Anmerkungen:
1 Nurit Shnabel, Arie Nadler, Daphna Canetti-Nisim, Johannes Ullrich, «The Role of Acceptance and Empowerment in Promoting Reconciliation from the Perspective of the Needs-Based Model», in: Social Issues and Policy Review, 3/1 (2008), S. 159–186.

Zitierweise:
Maria Palme: Alexander Hasgall: Regime der Anerkennung. Kämpfe um Wahrheit und Recht in der Aufarbeitung der argentinischen Militärdiktatur, Bielefeld: transcript, 2016. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 69 Nr. 2, 2019, S. 358-359.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 69 Nr. 2, 2019, S. 358-359.

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